Frauenliteratur: Der weibliche Blick

Frauenliteratur: Der weibliche Blick
Frauenliteratur: Der weibliche Blick
 
Was ist »Frauenliteratur«? Mit dieser Frage hat sich schon Virginia Woolf 1929 in ihrem Essay »Ein Zimmer für sich allein« beschäftigt: Ist es eine Literatur, in der Art und Wesen der Frauen untersucht wird? Ist es eine von Frauen verfasste Literatur oder eine, in der Frauen(-figuren) eine Rolle spielen? Virginia Woolf verbindet diese drei Fragestellungen, zeichnet weibliche Lebenszusammenhänge nach, registriert die Begrenzungen der Frauen in allen materiellen und kulturellen Bereichen, erkennt auch den Kontrast beziehungsweise den Zusammenhang zwischen realer Armut und Ausbeutung der Frauen einerseits und ihrer unerschöpflichen, aber maßlos verfremdeten Darstellung in der (von Männern verfassten) Literatur andererseits. So reicht die »imaginierte Weiblichkeit« von Klytemnästra, Antigone, Medea, Lady Macbeth und Phädra bis Anna Karenina, Emma Bovary und Madame de Guermantes, von der Jungfrau Maria bis zur sündhaften Eva. Die jahrhundertelang am Rande der Gesellschaft und Kultur stehenden, weitgehend stumm gebliebenen Frauen sind also im literarischen Text repräsentiert; das heißt ihr Nicht-Existieren in der historischen Wirklichkeit wird durch ihre Existenz in der Literatur kompensiert. Nach der französischen Schriftstellerin Hélène Cixous ist die Frau eine »Femme écrite«, eine »geschriebene Frau«, eine von den Träumen und Ängsten der Männer »festgeschriebene« Kategorie. Frauen und das, was sie leisten, werden aus männlichem Blickwinkel betrachtet, insofern auch nur in Bezug zum Mann gesetzt.
 
Immerhin hat es von Sappho bis heute auch eine Literatur »von« Frauen gegeben. Allerdings blieb sie eine Literatur am Rande, eigene Traditionen haben sich kaum gebildet. Wenn das Werk von Autorinnen - selten genug - in den literarischen Kanon einging, dann, weil es den »allgmeinen« Kriterien der (männlichen) Literatur- und Kulturkritik entsprach. Zur Frauenliteratur im heutigen Sinne kam es erst in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Zunächst bedeutete sie ja ebenfalls eine Literatur von Frauen, nur dass jetzt radikale Bewusstseinsveränderungen bei den Frauen eingetreten waren. Frauen stellten überlieferte Werte und Begriffe infrage und erkannten, dass Literatur und Sprache »ein Geschlecht haben«, dass die Literatur insgeheim die Handschrift des Mannes trug. Gegen seine beherrschende Stellung in Philosophie, Kunst, Literatur, Soziologie, Psychologie erhob sich ein neues Selbstbewusstsein der Frauen, das dem gültigen Wertekanon eigene Sehweisen entgegensetzte.
 
Wie kam es zu diesem - weite Teile der Welt - erfassenden Erkenntnisschub? Entscheidend war die Frauenbewegung, die in den Sechzigerjahren von den USA ausging und dann auf andere Länder, besonders auf Westeuropa übergriff. Abgesehen von konkreten Forderungen nach gleichen Rechten, nach Gleichstellung in der Arbeitswelt, nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper trieb sie, von zahlreichen Alternativ- und Selbsterfahrungsgruppen getragen, die feministische Bewusstseinsbildung voran.
 
Bahnbrechend und wegweisend für diese Entwicklung war Simone de Beauvoirs philosophischer Essay »Das andere Geschlecht« (1949) - eine universale Standortbestimmung der Frau. Das Buch wurde zum Klassiker des modernen Feminismus, zum Standardwerk der Frauenliteratur. Beauvoir zeichnete die historischen Prozesse, die materiellen und kulturellen Bedingungen so akribisch nach, dass in jeder Situation der Status der Frau als »anderer«, »zweiter, »zweitrangiger« erkennbar wurde. Mit der Forderung nach weiblicher Autonomie, die weder Gott, dem Mann oder dem Kind geopfert werden dürfe, sollte weibliches Leben seinen Wert (zurück-)erhalten. Nun lag es an den Frauen, sich selbst zu bestimmen, sich aus dem Objektstatus zu befreien, den Blick auf sich selbst zu richten.
 
Die ersten, die sich innerhalb der Frauenbewegungen mit dem Thema »Literatur und Frauen« beschäftigten, waren die Frauen an den Hochschulen. Bewusst grenzüberschreitend, das heißt zwischen Literatur, Politik und Leben vermittelnd, stellten sie den Sexismus in der Literatur bloß, indem sie die darin dargestellten Frauenfiguren, Geschlechterbeziehungen und Rollenverhalten untersuchten. Einen Skandal erregte noch Kate Millett 1970 mit ihrer Doktorarbeit über D.H. Lawrence, Henry Miller und Norman Mailer, in der sie zeigte, wie einseitig und verächtlich die Autoren Frauen in sexueller Hinsicht gezeichnet hatten. Aus diesem feministischen Denkansatz heraus entwickelte sich der »Feminist criticism« - der Begriff stammt von Elaine Showalter -, eine weit verbreitete Literaturkritik, mit der »Literatur« als »Männerliteratur« erkannt wurde, ohne dass ihr dieses Etikett jemals angeheftet worden wäre.
 
Nach dem Vorbild der an amerikanischen Universitäten praktizierten »Women's Studies« wurde seit den Achtzigerjahren eine »feministische Literaturwissenschaft« auch in Westeuropa betrieben. Sie baute auf dem »Feminist criticism« auf, aber auch auf den in den Siebzigerjahren von Hélène Cixous, Julia Kristeva und Luce Irigaray entwickelten Theorien über »Weiblichkeit«, »weibliche Ästhetik«, »weibliches Schreiben«.
 
Frauenliteratur war jetzt in aller Welt zu einem festen Begriff geworden. Ein Blick auf die deutsche Szene: 1968 hatte Christa Wolf »Nachdenken über Christa T.« geschrieben und auch in den folgenden Romanen mit einer »Verrückung des Blicks« ihrer Protagonistinnen gearbeitet, um Schwachstellen und Brüche in der patriarchalen Gesellschaft aufzudecken. Ingeborg Bachmann zeichnete 1971 in »Malina« das Bild der »ortlosen« Frau, das gespaltene Ich, die deformierte Identität. Beide Autorinnen wurden zu Leitfiguren der Frauenliteratur, da sie das Publikum für den »weiblichen Blick« sensibilisierten. In den Siebzigerjahren expandierte die Frauenliteratur gewaltig - Ausdruck einer unbändigen Befreiungsbewegung. Verena Stefan, Karin Struck, Christa Reinig, Jutta Heinrich, Brigitte Schwaiger, Katja Behrens, Herrad Schenk, Irmtraud Morgner und Maxie Wander waren die prominentesten Autorinnen dieser Phase. Verena Stefans »Häutungen« wurde zum Bestseller. Die Autorin schilderte die Gewaltverhältnisse in der »normalen« Sexualität, das zärtlichkeitsarme Sprach- und Alltagsverhalten von Männern. Sie stellte fest, dass die bestehende Sprache für die Schilderung neuer Erfahrungen, weiblicher Empfindungen, versagte und traf sich hier mit vielfach geäußerten Forderungen von Hélène Cixous an ein »weibliches Schreiben«. Der Schwerpunkt der Frauenliteratur dieser Generation lag auf Texten, die der Identitätsfindung galten, der Auseinandersetzung mit der Mutter, dem Vater, mit Natur, Gewalt, Krieg oder Krankheit. Es war das erste kollektive Heraustreten des weiblichen Ich aus einer langen Geschichte von Verstellungen, Anpassungen und Maskierungen, die auch eine Neubewertung des Mütterlichen im Gefolge hatte.
 
Frauenliteratur wird seit den Siebzigerjahren in der ganzen Welt geschrieben, erwähnt seien hier: die US-Amerikanerin Mary Daly, die mit »Gyn/Ökologie« (1978) die Sprache von ihren Wurzeln her aufbrach und aus den alten Bruchstücken neue »weibliche« Wörter und Begriffe gewann. Die afroamerikanische Lyrikerin Audre Lorde entwickelte eine »Mythobiographie« (»Zami«), in der autobiographisches Erzählen in afrikanische und amerikanische Mythen übergeht. Die Japanerin Saegusa Kazuko verfremdete mit weiblichem Blick das Kriegsende in Japan (»Der Sommer an jenem Tag«). Die US-Amerikanerin Sara Paretsky kreierte mit einer weiblichen Detektiv-Figur den Frauenkrimi und versuchte, mit den gleich gesinnten »Sisters in Crime« die sonst im Kriminalroman herrschende Diskriminierung, Gewalt und Brutalität gegenüber Frauen abzubauen. Die Ägypterin Nawal as-Saadawi schrieb in »Ringelreihen« die Geschichte von Hamida und Hamido, dem weiblichen und männlichen Prinzip, die beide auf ihre eigene Weise die Mechanismen der sie umgebenden Gewalt zu spüren bekommen. Die Algerierin Assia Djebar und die Marokkanerin Fatima Mernissi entlarvten das Patriarchat in der islamischen Welt am Beispiel einprägsamer Frauenfiguren. Beispielhaft für die Intellektualisierung der Frauenliteratur ist die katalanische Autorin Carme Riera, eine postmoderne Poeta docta. Ein weiteres Anliegen war, die verschüttete, verzerrte, entfremdete weibliche Geschichte zu rekonstruieren, Frauenfiguren wieder sichtbar zu machen, aus weiblicher Perspektive zu sehen beziehungsweise den vielen stumm gebliebenen Frauen eine Stimme zu geben; erwähnt seien Dacia Maraini mit »Die stumme Herzogin« oder Luise Pusch mit den Porträts von Müttern, Schwestern und Töchtern berühmter Männer oder von den »WahnsinnsFrauen«, jenen, die unter dem männlichen Blick als Psychopathinnen abgestempelt wurden.
 
Unabhängig von der variantenreichen Ausprägung der Frauenliteratur in der westlichen und östlichen Welt: Gemeinsam ist ihr die frauenspezifische Wahrnehmung in einem von Männern beherrschten Feld, der weibliche Blick. Wie die genderspezifischen Untersuchungen von Frauen geschriebener Literatur (»gynocriticism«) zeigen, hat es eine weibliche Perspektive schon immer gegeben. Neu ist an dem weiblichen Blick, dass er aus einem kollektiv erlebten emanzipatorischen Selbstbewusstsein entstanden ist und dass das neue weibliche Selbstverständnis ganz bewusst literarisch verarbeitet wird. Es ist das Bemühen um eine Perspektive, die vom besonderen Ort der Frauen in der Gesellschaft ausgeht, wobei die Frage bleibt, wie Weiblichkeit aus der Sicht der Frauen überhaupt zu definieren ist und wie, das heißt in welcher (neuen) Sprache, Weiblichkeit ausgedrückt werden kann.
 
Der Begriff Frauenliteratur ist primär an die Vorstellung vom Geschlecht als einem sozial-sprachlich-kulturellen Konstrukt (»gender«) gebunden. Er ist in andere Sprachen allerdings nicht adäquat zu übersetzen. Die angelsächsischen Bezeichnungen zum Beispiel stützen sich auf Elaine Showalter, die - um Literatur von Frauen und Frauenliteratur zu unterscheiden - die Literaturgeschichte von Frauen in drei Phasen einteilt: »Feminine literature« ist die Phase der Imitation, Assimilation und Verinnerlichung männlicher Normen, »Feminist literature« die des Protests und »Female literature« die Phase der Selbstverwirklichung ab 1920 und besonders ab 1960 kennt.
 
Die Suche nach einer authentisch weiblichen Schrift und Sprache ist mit derartigen Begriffen nicht unbedingt erfasst. »Écriture féminine« war vor allem das Anliegen französischer und frankokanadischer Autorinnen. Sie forderten eine Literatur, die an die Vorstellung von der Geschlechterdifferenz, vom (weiblichen) Geschlecht als biologisch determiniertem (»sex«) gebunden war. Aus der unterschiedlichen Sexualität beziehungsweise dem »weiblichen Begehren« sollte eine authentische weibliche Schreibweise entwickelt werden. Hélène Cixous, Monique Wittig, Catherine Clément oder Nicole Brossard haben versucht, das aus dem Symbolsystem verdrängte Weibliche - Unterbewusste, Unsagbare, Unaussprechliche - offenzulegen und mit dieser subversiven Energie das herrschende männliche Prinzip, Rationalität und Logozentrik, zu unterlaufen. Luce Irigaray wandte sich mit dieser Schreibweise gegen den psychoanalytischen Diskurs - etwa Jacques Lacans oder Sigmund Freuds - und bezeichnete ihn als »phallogozentrisch«.
 
Für die Rezeption und Distribution von Frauenliteratur musste mit Frauenbuchverlagen, Frauenbuchläden, Frauen-Netzwerken, Frauenfachzeitschriften, oder Zeitschriften für Frauchenbuchkritik erst eine Öffentlichkeit geschaffen werden; in den Achtzigerjahren hat sich der Buchhandel mit einer Vielfalt von besonderen Reihen, Editionen, Sammelbänden, Literaturgeschichten und Lexika jedoch zunehmend der Frauenliteratur geöffnet.
 
Prof. Dr. Renate Kroll
 
 
Amerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.
 
Commonwealth-Literatur, herausgegeben von Jürgen Schäfer. Düsseldorf u. a. 1981.
 
Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.
 Schirmer, Walter F.: Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur. 2 Bände. Tübingen 61983.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Frauenliteratur — Der Begriff Frauenliteratur bezeichnet ein Genre sowohl belletristischer als auch essayistischer Literatur, die im weitesten Sinne des Begriffs als ‚Literatur von Frauen und/oder über Frauen und/oder für Frauen‘ beschrieben werden kann. Mit Blick …   Deutsch Wikipedia

  • Frau — Ehefrau; Weib (derb); Gemahlin; bessere Hälfte; Gattin; Alte (derb); Ehegattin; Angetraute; Schachtel (derb …   Universal-Lexikon

  • Faroer — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

  • Färöer-Inseln — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

  • Färöerinseln — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

  • Färöische Inseln — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

  • Færøerne — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

  • Schafsinseln — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

  • Suðuroyar sýsla — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

  • Färöer — Føroyar Færøerne Färöer …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”